Von der Sehnsucht nach politischen Eltern

Sachar Prilepin ist in Russland ein Literaturstar — und auch im Westen galt er lange Zeit als russischer Hemingway. Gleichzeitig ist Prilepin kein Einfacher, im Gegenteil: Er ist der wohl widersprüchlichste unter den einflussreichen Schriftstellern im Russland des Wladimir Putin. Der frühere Putin-Kritiker und nunmehrige-Verehrer gilt als radikaler Nationalbolschewist.

Im Westen werden zeitgenössische Künstler, Filmemacher und Autoren nur in zwei Kategorien geteilt: Widerstandskämpfer und Putin-Lakaien. Wer nicht in eine der beiden Kategorien passt, gilt als uninteressant für die Berichterstattung. Prilepin war in dieser monothematischen Schwarz-Weiß-Betrachtung lange Zeit klar einzuordnen — als gewichtiger Putin-Kritiker. Dafür wurde er gefeiert und in zweiter Linie auch für seine Sprachkunst, die kaum jemand jemals in Abrede stellte.

Doch das Blatt wendete sich; in diesem Fall nicht so sehr weil der westliche Blick an Tiefenschärfe zulegte, sondern weil Prilepin eine 180-Grad-Wende vollzog. Als Mann der halben Sachen ist er nicht bekannt. Vom Gegner wurde er zu einem der prominentesten Unterstützer der Außenpolitik des Kreml. Somit passt Prilepin weiter ins Schwarz-Weiß-Schema, nur dass er irgendwann rund um 2014 von der unschuldigen, weißen Seite auf die dunkle Seite der Macht wechselte. Dass er auch vorher als Nationalbolschewist nicht unbedingt in das Schema des aufklärerischen Putin-Kritikers passte, wird gerne übersehen.

Anecken als Prinzip

Seine Hinwendung zu Putin jedenfalls ist eine totale: Vor wenigen Wochen zog Prilepin in den Krieg, um an der Seite der prorussischen Separatisten im ukrainischen Donezk zu kämpfen. Davor verlautbarte er, nur um das klarzustellen und Kritikern zuvorzukommen, dass ein Schriftsteller das Recht auf jegliche politische Position habe, egal welche.

Sich selbst bezeichnet Prilepin als links-konservativ. Seine Haltung beschrieb die Zeitschrift «Osteuropa», die regelmäßig Analysen geostrategischer Themen und internationaler Beziehungen veröffentlicht, als «populistische Mischung aus Nationalismus, Ressentiments und Sowjetnostalgie». Dabei gefällt sich Prilepin in der Rolle des Rüpels nicht erst seit gestern. Bereits als er seinen Status in der Literaturwelt festigte, erarbeitete er sich in Russland den Ruf des unangepassten Intellektuellen und schwierig zu deutenden Politaktivisten, der lautstark für seine Überzeugungen zu kämpfen weiß, welche auch immer das gerade sein mögen.

Kämpfen bedeutete Ende der 90er, Anfang der Nullerjahre aus Prilepins Sicht vieles. Als stellvertretender Chefredakteur der liberalen Zeitung «Nowaja Gaseta» in Nischnij Nowgorod etwa schrieb er regimekritische Texte. Davor half er bei der Organisation von Demonstrationen mit Tausenden Teilnehmern, die den Umsturz Putins forderten — und wurde dabei mehrmals verhaftet.

Die Ambivalenz einer russischen Seele

Oft fiel deshalb im Zusammenhang mit Prilepin das Wort «Punk-Poet». Das passte auch zu seinem Schreibstil: Er wollte als Autor nie akademisiert wirken und lebte stets jene politische Radikalität, die ihn beim Schreiben anzutreiben scheint. Gegenüber ORF.at beschreibt Prilepin das heutige Russland so: «Unsere Gesellschaft ist konservativ, es ist eine paternalistische Gesellschaft, mit einer Vorliebe für traditionelle Werte, aber das Bürgertum und die Intelligenzija sind absolut prowestlich. Da gibt es eine starke Dissonanz. Und man muss da zu einem gemeinsamen Nenner finden.»

Prilepin appelliert an den gesellschaftlichen Zusammenhalt — freilich genau in jenem paternalistischen Sinn, der die russische Politik von außen betrachtet als Rabaukentum erscheinen lässt: «Wenn Russland die Entscheidung getroffen hat, die Russen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion nicht im Stich zu lassen, dann sollte dieser Entschluss laut kommuniziert werden. Die Menschen sollten die Spielregeln verstehen. Bei uns beherrschen die Liberalen die Wirtschaft, zugleich pflegt das Land die sowjetische Hymne, die Armee rüstet auf, aber niemand spricht darüber.» Prilepins Haltung ist wechselhaft, seine Gesellschaftsanalyse mitunter schwer nachzuvollziehen. Es ist, als wolle er jene Ambivalenz, die er bei den Russen verortet, möglichst wirkungsvoll selbst verkörpern.

Politischer Kampf — aber wofür?

Man muss Prilepins Vergangenheit kennen, um seine (Nicht-)Haltung zu verstehen. Er wurde 1975 als Sohn einer Krankenschwester und eines Geschichtsprofessors geboren und studierte Literaturwissenschaften. In den 90ern wurde er Mitglied der mittlerweile verbotenen Nationalbolschewistischen Partei. In Interviews bezeichnete er mehrmals den Parteigründer der Nationalbolschewisten und höchst umstrittenen Schriftsteller Eduard Limonow als seinen geistigen Ziehvater. In den 90er Jahren trat Prilepin auch den russischen Spezialeinheiten der Polizei Omon bei und kämpfte als Kommandant einer Einheit 1996 in Grosny und 1999 im zweiten Tschetschenien-Krieg.

Wer glaubt, Prilepin werde längst als Wirrkopf abgetan, der irrt. So etwa lobte der Oppositionspolitiker Ilja Ponomarjow — der sich im russischen Parlament als Einziger gegen die Annexion der Krim aussprach — einst Prilepin: «Für das Modell einer moralischen Instanz als Anführer der Nation gibt es einzelne Beispiele: Mahatma Gandhi und Vaclav Havel etwa. Es muss eine bedingungslose moralische Autorität sein, die imstande ist, einen politischen Kampf zu führen, und die gute Führungsqualitäten besitzt. Was die russischen Schriftsteller betrifft, so könnte unter ihnen nur einer Präsident sein: Sachar Prilepin.»

Eine Stimme für die vergessene Generation

Mitten in diesem Wirrwarr, mitten in der russischen Debatte über Prilepin erfolgte sein internationaler Durchbruch — auf die wichtigsten russischen Literaturpreise folgten einige im Ausland. Sein Roman «Sankya» erhielt die größte Aufmerksamkeit und wurde in gleich 20 Sprachen übersetzt. Der Roman handelt von der jungen russischen Generation der Nullerjahre, von der sich viele radikalen Parteien anschlossen und bei Demonstrationen in Straßenschlachten verwickelt waren.

Das Buch gilt als ein Porträt einer vergessenen sozialen Schicht in der russischen Provinz. Laut dem Autor selbst geht es «um die Suche nach der Tradition. Junge Menschen, die sich selbst wieder wie Söhne empfinden wollen, die also wollen, dass ihre Heimat die Elternrolle übernimmt, damit sie nicht wie unbeaufsichtigte Kinder dastehen. Denn diese jungen Menschen haben sich unter Jelzin in den 90er Jahren wie im Stich gelassene Kinder ohne elterliche Aufsicht gefühlt.»

«Leidenschaftlich, zärtlich und ernst»

In Europa zeigten sich die Kritiker einhellig begeistert, man interpretierte den Roman augenscheinlich anders als der Autor ihn gemeint hatte. Im «Deutschlandfunk» etwa hieß es: «Das erste Kapitel reicht schon, um zu verstehen, warum die russische Kritik in Sachar Prilepin 2006 einen neuen Maxim Gorki erkannte. Hier war ein Autor, der wie Gorki 100 Jahre zuvor das verzweifelte, hoffnungslose, graue Russland in klassisch realistischer Prosa beschrieb. Fern von allen postmodernen Experimenten, fern von jeder Ironie und modischem Zynismus. Leidenschaftlich, zärtlich und ernst. (…) Prilepin hat seinen Ausweg gefunden aus Frustration und Hoffnungslosigkeit, (…) indem er Schriftsteller wurde. Nicht irgendein Schriftsteller übrigens, sondern der berühmteste seiner Generation, mit Preisen im In- und Ausland überhäuft (…)»

Dass schließlich auch im europäischen Ausland Debatten über seine umstrittene politische Ausrichtung geführt wurden, tut Prilepin ab: Er habe keine Lust mehr darauf, eine Feldstudie für westliche Intellektuelle zu sein.

Neues Buch und dann zur Frontlinie

Sein neuestes Buch «Platoon. Officers and rebels of Russian Literature» wurde Mitte Februar in Moskau vorgestellt und soll von Literaten handeln, die auch mit der Waffe umzugehen wussten — von Derschawin bis Puschkin. Gleich nach der Buchvorstellung zog der Autor an die Donezker Frontlinie, wo er angeblich eine militärische Einheit leitet und tatsächlich online ein Kriegstagebuch führt. Prilepin will laut eigenen Angaben vorrangig als moralische Unterstützung für russische Separatisten fungieren — aber auch als Major mit der Waffe in der Hand kämpfen, wie er gegenüber der Zeitung «Komsomolskaja Prawda» sagte. Das Ziel sei dabei Kiew. Gleichzeitig sagt Prilepin, er kämpfe nicht gegen die Ukrainer, sondern gegen ihr Regime.

Seine Aussagen zum Ukraine-Krieg sind nicht nur umstritten, sondern sorgen in Russland auch für Furore. Von Ukrainern werden sie als überaus zynisch wahrgenommen. Prilepin sagte etwa, er betrachte die Ukrainer als Brüder — was viele Ukrainer als Affront betrachteten von jemandem, der in den Krieg gegen ihr Land zieht. Auch kritische Reaktionen von russischen Kunstschaffenden gab es. Dimitry Bykow meinte gegenüber Gazeta.ru, dass Prilepin nichts als Abscheu verdiene. Und der angesehene russische Autor Viktor Pelevin äußerte sich auf Facebook mit den Worten: «Wenn Deine Bücher scheiße sind, musst Du mit Terrorismus Dein Geld verdienen.»

Prilepin nimmt stets auch russische Klassiker in Geiselhaft, was ihm von Schriftstellerkollegen besonders angelastet wird. Es heißt, er deute das Vermächtnis etwa von Tolstoi und Dostojewski falsch, um seine teils kruden Ansichten und nun auch den Einsatz im Ukraine-Krieg zu rechtfertigen.

Dalibor Manjic, Simon Hadler,
ORF.at, 20.03.2017