Jeder Mensch ist ein einziges Trauma

Von Desperados und Despoten: Das LTT arbeitet sich mit der Adaption von Sachar Prilepins „Sankya“ an den autoritären russischen Verhältnissen ab

Tübingen. Na, diese Inszenierung wird das Landestheater wohl kaum in der karelischen Hauptstadt Petrosawodsk kredenzen, sagen wir zum anstehenden Partnerschaftsjubiläum. Zwar würden die wackeren Tübinger Theatermacher vielleicht nicht gerade dafür eingeknastet werden. Aber als unfreundlicher Akt dürfte die „Sankya“-Gewaltphantasie gegen Väterchen Staat, zumindest von den offiziellen russischen Stellen, gewiss aufgefasst werden.

Überhaupt versteht man dort keinen Spaß, was Abweichler, Ruhestörer oder Unruhestifter betrifft. Wer am Samstag im überregionalen Teil dieser Zeitung über die besorgniserregende (An-)Klage der einsitzenden Pussy-Riot-Ikone Nadeschda Tolonnikowa gelesen hat, die im Straflager menschenverachtend behandelt wird, der weiß spätestens dann, dass im Riesenreich des vorgeblich „lupenreinen Demokraten“ Wladimir Putin allerhand im Argen liegt. Aber auch, dass sich unter der Knute weiterhin Widerstand regt.

Sachar Prilepins Kultroman „Sankya“ handelt von einigen der jungen Umstürzler, die in Pussy-Riot-Manier aus pubertärem Trotz oder purer Langeweile, aber auch aus Gerechtigkeitsempfinden und Freiheitsdrang gegen das verhasste Regime randalieren und rebellieren. Gegen seinen totalitären Machtanspruch, gegen Homophobie und gegen engstirnig-vaterländische Fremdenfeindlichkeit. Dafür wird ihnen, vorneweg dem ungebärdigen Sankya, böse mitgespielt. Bis sie ihrerseits entschlossen die Kalaschnikows entsichern, den Staat herausfordern und von Protestlern zu „Terroristen“ werden.

Bloß, wie bringt man solch einen Barrikaden-Sturm und Drang adäquat auf die Bühne? Und vor allem, warum eigentlich? Seit das postdramatische Theater für sich das Nacherzählen von Prosa entdeckt hat, ist keine kleine Novelle oder kein noch so ausufernder Lese-Schinken davor sicher. Die Inflation umgewidmeter Romane nimmt überhand, dass man sich fast schon ein striktes Verdikt herbei wünscht, ein staatlich verordnetes Romanaufführungsverbot...

...doch Schluss mit solch defätistischen Gedanken. Regisseur und Russlandkenner Ralf Siebelt hat Sachar Pripelins „Sankya“ fürs Theater zur Deutschsprachigen Erstaufführung umgemodelt. Und das ist, zumal in einem freien Land, auch sein gutes Recht. In der LTT-Werkstatt machen die Protagonisten von Anfang an gehörig Krach, eingesperrt in einen riesigen Käfig (Ausstattung: Hannah Landes), der in Nullkommanix aussieht wie das Schlachtfeld, das Russland gefühlt wohl auch sein soll.

Sie lassen‘s also krachen, mit Wutgeschrei an Gitterstäben. Denn das Land, aber auch das Innenleben, ist ein einziges Gefängnis. So gesehen könnten wir uns in jeder x-beliebigen Diktatur befinden, in der gerade gelitten, gewütet oder eben rebelliert wird. Das Ensemble, vier Schauspieler und eine Schauspielerin, müssen mit Ausnahme des Sankya-Darstellers Ben Janssen in verschiedenste Rollen schlüpfen. Und so findet sich mancher bei unübersichtlicher Demo-Frontlinie unversehens auch mal im Lager der Brutalo-Staatsmacht wieder.

Das Stück zeichnet lautstark, hautnah und unter beeindruckendem Körpereinsatz aller Beteiligten den Weg von halbstarker Randale zur (selbst)mörderischen Totalopposition nach. Je härter der Despot zurückprügeln lässt, desto mehr verhärten sich die Desperados. Angst und Schrecken auf beiden Seiten: Das ist der Antrieb in diesem Stück, das die theatralischen Mittel dafür sucht und manchmal sogar findet. Wenn es auch die probaten Mittel des Kindertheaters sind. Etwa, wenn ein MP-Massaker an einem missliebigen Justiz-Chargen als Kissenschlacht mit blutigroten Daunen endet.

Der äußerst aufopferungsvoll agierende Ben Janssen, um dessen Unversehrtheit man sich manchmal beinahe sorgen müsste, lässt den anfänglichen Mitläufer Sankya mehr und mehr zu einem dostojewskihaft verfinsterten russischen Kohlhaas werden, zu einem zurückschlagenden, wild um sich schlagenden Gesetzes(ver)brecher aus verlorener Ehre. „Jeder Mensch ist ein einziges Trauma“, sagt Sankya einmal, wenn wieder einmal Wohl und Wehe des Widerstands verhandelt werden. Es ist auch die innere Verzweiflung, die sich raumgreifend breit macht. Die Trost- und Mutlosigkeit in einem weiten Land, deren einigermaßen Halt bietende ländliche Strukturen in heilloser Auflösung begriffen sind. Auch davon erzählen der Roman – und ein bisschen wenigstens sogar die Aufführung.

Die Revolution bepisst ihre Kinder. Sankya steht irgendwann da, gepeinigt, gepiesackt, gedemütigt, aber immer noch nicht mutlos genug. Neben dem sonstigen Krawall, den die Inszenierung veranstaltet, versteht sie die Musik als Waffe: Dann greifen die Akteure (neben Janssen sind dies Steffen Riekers, Andreas Helgi Schmid, Patrick Seletzky und Margarita Wiener) zum Instrument und lassen ein bisschen den russischen Punk abgehen. Die musikalische Anleitung gab Jojo Büld.

Wenn es am Ende unter Kriegsbemalung richtig ernst wird, wenn Schwulen-Schmäher Putin seinerseits auf Protestplakaten tuntig angemalt erscheint und wüst beschimpft wird, dann gewaltfantasiert sich die zunehmend humorlose Spaßguerilla im LTT-Käfig per Filmchen sogar ein geglücktes Stinkbombenattentat auf Russlands verhassten Präsidenten herbei. Die Staatsmacht, wir ahnen es, schlägt erbarmungslos zurück, die Gewaltspirale dreht sich weiter. Kein Happy End in Sicht, nur ein Showdown. „Was ist denn das für ein Getöse?“, wundert sich ein staatlicher Würdenträger, bevor er aus dem Fenster gekippt wird.

Er hat recht: Zu viel Getöse, zu wenig Einsichten. Wilhelm Triebold

Info: Weitere Vorstellungen am 4., 9. und 18. Oktober.

Unterm Strich
Trauma