Ein faszinierendes Argernis

Es ist kein Zufall, dass einer der besten russischen Gegenwartsautoren uber zehn Jahre warten musste, bis er ins Deutsche ubersetzt wurde. Zakhar Prilepin (geb. 1975) gehort zu den angry young men in Russland, die von der Literatur mehr als Unterhaltung fordern, sich dabei aber weit aus dem Fenster lehnen. In einem Interview mit der oppositionellen «Nowaja Gaseta» hielt Prilepin 2006 fest: «Es ware dumm, heute Politik und Soziologie zu ignorieren. Wozu, zum Teufel, ware dann ein Schriftsteller noch nutze?» Prilepin propagiert einen radikalen Nationalismus. Das Wort «Heimat» schreibt er konsequent mit Grossbuchstaben. Der russische Boden, in dem «die Herzen der Grossvater und Urgrossvater» aufgelost sind, ist ihm heilig. Erbittert kampft er gegen Putin, den er als Usurpator und Okkupanten anklagt. Prilepin unterstutzt Limonows «Nationalbolschewistische Partei», die von einem neuen russischen Imperium traumt. Das Parteilogo der Nationalbolschewisten ist eine abgeanderte Naziflagge, die statt eines Hakenkreuzes Hammer und Sichel aufweist. Prilepin selbst will ein «grosses Land, grosse Sorge um das Land, grosse Resultate, grosse Erde, einen grossen Himmel». Dann ware die «grosse Freiheit» da, die dem Menschen die «grosse Wahl» liesse.

Zakhar Prilepin beglaubigt seinen Kampf fur eine solche Existenz im Superlativ mit einem patriotischen Engagement, bei dem er selbst Kopf und Kragen riskiert: Er kommandierte eine Abteilung der Elitepolizeitruppe Omon, kampfte als Soldat in Tschetschenien und grundete gemeinsam mit dem Blogger Alexei Nawalny die regierungskritische Bewegung mit dem programmatischen Namen «Das Volk». Prilepin, Nawalny und Limonow gehoren zu jenen rabiaten Patrioten, die den Russen ein radikales nationales Erziehungsprogramm verschreiben wollen.

Viele Kritiker haben Prilepin vorschnell als «Faschisten» abgestempelt. Wahr ist, dass Prilepin ein durchaus fragwurdiges Gesellschaftsideal vertritt. Das mindert aber seine schriftstellerischen Qualitaten nicht im Geringsten. Im Gegenteil: Prilepins Bucher sind von einem Missionsdrang beseelt, der einen besonderen Sog erzeugt. Seine Texte ziehen den Leser durch ihre Kompromisslosigkeit, manchmal auch durch ihren kalkulierten Wahnsinn in ihren Bann. Auch «Sankya», Prilepins zweiter Roman aus dem Jahr 2006, der nun in einer vorzuglichen Ubersetzung auf Deutsch vorliegt, entfaltet eine gefahrliche Aura: Der junge Politaktivist Sankya gehort einer nationalistischen Partei an, die auf eine neue russische Revolution hinarbeitet. Im Roman heisst die Bewegung «Sojus Sosidajuschtschich» (Bund der Schaffenden) – die Abkurzung SS verweist in prekarer Reminiszenz auf die braune Diktatur.

Der Text setzt mit einem Fanal der Gewalt ein: Eine unbewilligte Kundgebung der Partei mundet in eine wuste Schlagerei, in der sich Polizei und Demonstranten nichts schenken. Bis ins Detail beschreibt Prilepin, wie die Fahnenstangen auf die Kopfe der Ordnungshuter krachen und wie die Militarstiefel in das Gesicht der bereits am Boden liegenden Krawallanten knallen. Sankya ist aber nicht einfach ein blind wutender Vandale, sondern auch Philosoph und Romantiker. Er diskutiert mit einem Universitatsdozenten uber die Zukunft Russlands und sorgt ruhrend fur seine naive Mutter in der Provinz. Mit der Parteifuhrerin Jana verbindet ihn eine leidenschaftliche Affare. Ein privates Gluck wurde allerdings beiden als Verrat an ihrer politischen Mission erscheinen.

Bald darauf wird Jana verhaftet, weil sie eine Protestaktion in Lettland organisiert: Ein Parteikommando ist nach Riga gereist, hat den Fernsehturm gesturmt und von der obersten Plattform Flugblatter auf die Stadt fallen lassen. Mit dieser Aktion will die Partei gegen die Diskriminierung russischer Kriegsveteranen in Lettland protestieren. Die Situation spitzt sich weiter zu: Nachdem die Aktivisten zu funfzehn Jahren Haft verurteilt worden sind, reist Sankya nach Riga, um den Richter zu erschiessen. Die Dinge nehmen eine unerwartete Wendung, und Sankya kehrt nach Russland zuruck. Die Partei gerat immer mehr unter Druck: Einzelne Anfuhrer werden ermordet oder angeklagt. Der harte Kern reagiert mit einem Gewaltausbruch: Sankya verwustet mit seinen Kollegen eine McDonald's-Filiale und verschanzt sich schliesslich in einem Regierungsgebaude, wo er die anruckende Polizei mit MPs und Granatwerfern beschiesst. An diesem Punkt bricht der Roman ab; es ist jedoch klar, dass Sankya und seine Freunde als Martyrer der Revolution sterben werden.

Sankyas Begrundung fur sein selbstzerstorerisches Handeln folgt einer verqueren Logik, die aus einem Dostojewski-Roman stammen konnte. Einem zogernden Kampfgefahrten erklart Sankya die aussichtslose militarische Schlussaktion mit drastischen Worten: «Der Sinn liegt darin, zu wissen, wofur es sich zu sterben lohnt. Du weisst nicht einmal, wofur du lebst. Solche wie du retten sich, indem sie Russland auffressen, und solche wie ich, indem sie die eigene Seele auffressen. Russland wird von den Seelen seiner Sohne ernahrt – von ihnen lebt es. Es lebt nicht durch die Gerechten, sondern von den Verfluchten. Ich bin ein Sohn Russlands, mag sein, ein Verfluchter. Aber du – bist ein verdammter Bastard!»

Prilepin zeichnet in «Sankya» nicht nur das uberzeugende Psychogramm eines spatpubertaren Bewusstseins, sondern erfindet immer wieder ebenso uberraschende wie uberzeugende sprachliche Bilder fur Schlusselsituationen. So versucht Sankya sich wahrend der Liebesszene mit Jana zu erinnern, wann er ein ahnliches sinnliches Erlebnis hatte: «Plotzlich sah er sich an einem sommerlichen Strand, als Junge, der mit Brust und Bauch auf dem schwarzen Schlauch eines Autoreifens lag, der gleichzeitig scharf und suss roch – nach Wasser, Sonne und etwas betorend Schwulem.»

Gewiss ist Prilepins Roman in hochstem Mass politisch unkorrekt. Allerdings zielt die Frage nach einem moralischen Standard fur Literatur ins Leere. Ein gutes Beispiel bietet noch einmal Dostojewski, der bereits vor knapp 150 Jahren in seinen «Damonen» eine eigenartige Bewunderung fur die unbedingte Willenskraft von Terroristen an den Tag gelegt hat. Seine Romanfiguren sind willens, fur ihre Uberzeugungen nicht nur zu toten, sondern auch zu sterben. Dostojewskis eigene politische Ansichten waren ebenfalls weit davon entfernt, heutigen ethischen Anspruchen zu genugen: Er war ein antisemitischer Chauvinist und konnte mit dem rechtsstaatlichen Ideal der Demokratie nichts anfangen. Das andert allerdings nichts an seiner literarischen Uberzeugungskraft. Gerade weil Dostojewski so kompromisslos hinter seinem Wahrheitsentwurf steht, gelingt ihm ein Text, dessen Strahlkraft man sich nicht entziehen kann, auch wenn man mit ihm nicht einverstanden ist. Das gilt auch fur Zakhar Prilepin – sein Roman ist ein politisches Argernis, das man fasziniert liest.

Ulrich M. Schmid
"NZZ Neue Zuricher Zeitung", 9. Oktober 2012