Blutiger Frost, rotziger Tau
„Sankya“: erst Demonstrant, dann Attentater. Zakhar Prilepins Roman uber die Radikalisierung eines jungen Russen.
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AUS DEM ARCHIV:Russland: Mindestens 142 Kaltetote (28.12.2012)
Was Ljowa, Patient in einem Krankenhaus, seinem Bettnachbarn Sascha mitzuteilen hat, ist eine jener russischen Metaerzahlungen, in die sich auch Saschas kurzes Leben einschreibt. Russland, erklart Ljowa, „wurde aus diesem Blut und diesem Chaos zusammengesetzt, das ist doch ganz offensichtlich, Sascha, und die Geschichte wiederholt sich alle hundert Jahre, sie bewegt sich im Kreis. Zuerst der blutige Frost, dann der Rotz des Tauwetters, dann das Chaos, dann der blutige Frost... Und so weiter.“ Eine unumsto?liche Metaerzahlung, an der es auch in Zakhar Prilepins Roman „Sankya“ (Sankya ist wieSascha eine Kurzform von Aleksandr) keinen Zweifel gibt.
Die Geschichte wiederholt sich also. Diesem Sprichwort wohnt in seiner russischen Variante ein besonders erschutternder Fatalismus inne. Prilepin portratiert ein Land, das in einem Teufelskreis von Gewalt gefangen ist; das zornige Tochter, vor allem aber zornige Sohne hervorbringt, die mit Gewalt laufen, sprechen und handeln gelernt haben, sodass sie nun, an der Schwelle zum Erwachsenwerden, nur noch in der Zerstorung Erleichterung finden. Sascha hat sich der „Sojus Sosidajuschtschich“ (auch als „SS“ abgekurzt) angeschlossen, einer radikalen politischen Bewegung des Anfuhrers Kostenko, der im Gefangnis sitzt. Offensichtlich ist diese politische Kraft an die Nationalbolschewisten Eduard Limonows angelehnt. Limonow – Schriftsteller, Dissident, Exhaftling – grundete 1992 seine antidemokratische, russlandverherrlichende nationalbolschewistische Partei.
Zakhar Prilepin ist niemand, der das Treiben der „Rot-Braunen“ aus kuhler Distanz beobachtet hat – im Gegenteil: Er ist Parteimitglied, arbeitete als Wachmann, kampfte im Tschetschenien-Krieg. Sein bereits 2006 in Russland erschienener Roman „Sankya“, der nun mit einiger Verspatung vom Berliner Verlag Matthes & Seitz verlegt wurde, hat ihn bekannt gemacht. Prilepins Roman ist dennoch keine Stra?enkampfprosa: Indem er die tagliche Gewalt ungeschont, in klaren und kraftvollen Worten beschreibt, legt der Autor gewalttatige Strukturen offen.
Der Roman beginnt mit einer Demonstration und endet mit einem landesweiten bewaffneten Aufstand. Dazwischen liegt die Radikalisierung Saschas. Der junge Mann, der aus einer namenlosen Stadt nahe Moskaus stammt, ist Aktivist der „SS“-Bewegung. Eine Demonstration eskaliert in der Plunderung einer Geschaftsstra?e, was eine brutale Strafaktion von Sonderkommandos nach sich zieht. Zunachst kann sich Sascha zu seinen Gro?eltern aufs Land fluchten, doch spater wird er von Sicherheitskraften gefasst, gefoltert und halb tot im Wald ausgesetzt. Seine Gruppe und er verschwinden schlie?lich im Untergrund, hausen in Geheimwohnungen. Als Saschas Mitstreiterin Jana verhaftet wird, nachdem sie dem verhassten Staatsprasidenten einen ubel riechenden Cocktail uber das Gesicht gekippt hat, wei? die Vereinigung, dass ihr Ende naht. Sie setzt zum finalen Schlag an: einem landesweiten bewaffneten Aufstand.
Doch bei dem Feldzug jubiliert Sascha nicht, er hat kein Ziel. Gestohlenes Geld verteilt er, aus dem aufgebrochenen Supermarkt nimmt er keine Waren mit. „Er fand nicht heraus, was er eigentlich brauchte. Was das uberhaupt ist, wozu das alles.“ Saschas Aktionen sind eine planma?ige Zerstorung des eigenen Lebens. „Russland wird von den Seelen seiner Sohne ernahrt – von ihnen lebt es“, sagt er zu seinem fruheren Vertrauten Besletow, bevor er ihn aus dem Fenster des besetzten Gouverneursamts wirft und auf den eigenen Tod wartet: Schwer bewaffnet kapituliert er vor seinem Schicksal.