Sachar Prilepin (Prilepin Zachar, geboren als Evgenij Nikolaevič Prilepin), Schriftsteller, Publizist, Politiker, Sänger, Schauspieler
geb. 07.07.1975 im Dorf Il'inka (Gebiet Rjazan') als Sohn eines Lehrers und einer Krankenschwester. Diente nach dem Schulabschluss in den OMON-Sondereinheiten, einer zur Aufstandsbekämpfung während der Perestroika geschaffenen Polizeiformation. Nahm Ende der 90er Jahre an den Kämpfen in Tschetschenien und Dagestan teil. 1999 Hochschulabschluss an der philologischen Fakultät der Lobačewski-Universität in Nishnij Novgorod.
Erste literarische Veröffentlichung 2003.
Bücher
- Patologii, Roman, 2005
- Sank'ja, Roman, 2006, deutsch als Sankya, 2012, Matthes & Seitz Berlin
- Grech, Erzählungen (2007)
- Botinki polnye gorjačej vodkoj: pacanskie rasskazy (2008)
- Ja prišel iz Rossii, Essay 2008
- Ėto kasaetsja lično menja, Essay 2009
- Leonid Leonov: Igra ego byla ogromna. Schriftstellerbiografie, 2010
- Černaja obez'jana, Povest', 2011
- Vos'mërka, Erzählungen, 2011
- Knigočët, Lehrbuch, 2012
- Obitel', Roman 2014
- Letučie burlaki, Essay, 2014
- Ne čužaja smuta, Essay, 2015
- Nepochožie poėty: Mariengof, Lugovskij, Kornilov, Schriftstellerbiografien, 2015
- Sem' žiznej, Erzählungen, 2016
- Vsë, čto dolžno razrešit'sja...: Chronika iduščej vojny, Reportagen, 2016
- Vzvod. Oficery i opolčency russkoj literatury, Schriftstellerbiografien, 2017
Die Werke Prilepins wurden in 23 Sprachen übersetzt, ins Deutsche bisher nur der Roman »Sankya« sowie eine Erzählung aus dem Band »Botinki...« im Sammelband Russland. Das große Lesebuch (Hg. Ulrich Schmid), FfM 2017.
Eine vollständige Übersicht seines Schaffens (u.a. als Filmschauspieler und Punk-Musiker) bietet die persönliche Website Prilepins.
Prilepin betätigt sich häufig politisch, zuerst als Nationalbolschewist, zuletzt in der Levyj front, einer Organisation von Sozialisten in Russland und in den anderen früheren Bestandteilen der UdSSR. Mehrfach nahm er an Aktionen unter dem Motto »Putin muss gehen« teil.
Nachdem er ab Ende Oktober 2014 humanitäre Hilfe für den Donbass eingesammelt und überbracht hatte, wurde er im Dezember 2015 Berater des Oberhaupts der Donezker Volksrepublik, Alexander Sachartschenko. Im Oktober 2016 wurde er zum stellvertretenden Bataillonskommandeur in der Armee der Donezker Volksrepublik befördert, zuständig für die (politische) Arbeit mit den Landwehr-Soldaten. Der ukrainische Geheimdienst SBU eröffnete ein Verfahren gegen ihn, die deutsche Agentur Nibbe&Wiedling stellte die Zusammenarbeit ein. Der ukrainische Rada-Abgeordnete Jurij Michalčišvili rief öffentlich zur Ermordung Prilepins auf. Prilepin reiste in dieser Zeit häufig nach Russland, um für die Donezker Volksrepublik zu werben oder Lesungen abzuhalten.
Im September 2018, nach der Ermordung von Alexander Sachartschenko, beendete Prilepin seinen Einsatz im Donbass (s.u., Interview).
Gemeinsam mit Sergej Schargunow leitet Prilepin die Internet-Zeitung »Svobodnaja pressa«.
Man muss die wirkliche Ordnung der Welt annehmen
Sachar Prilepin zum Roman »Das Kloster«, zu Solshenizyn und zu Existenzfragen russischer Schriftsteller
Vorbemerkung:
In dem 2014 erschienen Roman »Das Kloster« schildert Prilepin den Alltag auf den Solowki-Inseln in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, deren Kloster seit 1554 als Verbannungsort und von der Sowjetmacht ab 1923 bis 1939 als Straflager genutzt wurde. Auf der Frankfurter Buchmesse 2018 konnte ich mit ihm ein Interview führen. Der Roman soll 2019 in deutscher Sprache erscheinen.
In Deutschland sind - im Vergleich zu Italien oder Frankreich - ziemlich wenige Ihrer Werke erschienen. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Mir scheint, dass Deutschland infolge bestimmer historischer Gründe sich ernsthafter und aufmerksamer zu übersetzter Literatur und zu einem Schriftsteller mit einem derart komplizierten Ruf wie ich verhält. Im Ganzen wird die Generation der neuen Realisten, darunter sind viele offen links, etwas weniger willkommen geheißen als jene Literaten, die sich auf die eine oder andere Weise mit der Dekonstruktion des sowjetischen Projekts beschäftigen. Ein gewisser roter Flor kann sich auswirken auf eine Verkomplizierung meiner Geschichte in Deutschland. Ich erkläre mir das so, es kursieren aber auch andere Erklärungen. Zu alledem habe ich gesagt, dass es eine bestimmte Emigrantenlobby gibt, die, wie ich genau weiß, Einfluss auf die Verweigerung eines deutschen Preises an mich genommen hat. Sie erschienen hier und sagten, dass Prilepin ein Mensch ist, der die Grenzen des europäischen Anstands überschreitet. Die Deutschen haben ihr geglaubt. Anstatt mich zu fragen, was ich zu den Fragen zu sagen habe. Doch mir scheint, dass die Literatur, wenn sie gut ist, sich das ihr Gehörige nimmt und sich behauptet. Ich denke, wenn Fjodor Michajlowitsch Dostojewski in unseren Tagen lebte, würde er nicht in die Rangfolge der politischen Korrektheit hineinpassen und man wollte mit ihm lieber nichts zu tun haben. Ich hoffe, dass meine Texte an sich gut sind und den deutschen Leser erreichen - auf literarischer Grundlage und nicht auf Grundlage außerliterarischer Anstandsregeln.
Wie haben die russischen Leser den Roman »Das Kloster« [Obitel'] aufgenommen? Wie hat sich das Buch verkauft?
»Das Kloster« war zwei Jahre lang das meistverkaufte Buch in Russland. Mein Buch und andere Bücher von zwei, drei Autoren haben den Trend der von Frauen geschriebenen Kriminalromane besiegt - das ist Massenliteratur, die in den vergangenen 15 Jahren überwogen hat; in Russland nennt man sie »Makulatur«, Literatur für den Massenleser. Mehrere meiner Zeitgenossen - Jewgenij Wodolaskin, Alexej Iwanow - und ich haben sie erstmalig überwunden mit ernsthaften Büchern und Massenerfolg. Darauf bin ich natürlich stolz. Für mich war es überraschend, dass wir Bücher mit nackten oder halbnackten Schönheiten auf dem Umschlag, mit Pistolen oder ähnlichem erfolgreich überflügeln konnten. Das ist Klasse. Über unsere Bücher wurden wissenschaftliche Arbeiten mit einem zehmal so großen Umfang wie unsere Romane geschrieben. Die Texte über mein Buch passen ihn zehn Bände.
Die Kritikerin Walerija Pustowaja hat ziemlich scharf auf »Das Kloster« reagiert. Wie ist diese Reaktion zu erklären?
Man kann nicht mit allem allen gefallen. Ich stelle mich nicht mit anderen auf eine Stufe, aber wenn ich mich nach einer dummen Kritik beruhigen will, lese ich, was zu Lebenszeiten über Gogol, Dostojewskij, Faulkner geschrieben wurde. Das macht mich froh, heitert mich auf und ich denke »Ist doch alles in Ordnung«.
Sie haben vor kurzem, in einem Vortrag im Unesco-Hauptquartier in Paris, Solshenizyn falsche Aussagen über Gorkijs Aufenthalt auf den Solowki-Inseln vorgeworfen. Einige russische Historiker der Gegenwart beschreiben ebenfalls den ziemlich freien Umgang Solshenizyns mit den Fakten aus der Zeit der Stalin-Ära. Wem soll man glauben?
Glauben muss man den Fakten, den Zahlen. Zu Solshenizyns Verteidigung kann man sagen, dass er keinen Zugang zu Archiven hatte, sich nur auf mündliche Erzählungen und Nacherzählungen stützen konnte. Das resultierte in gewissen Mängeln. Das Problem des Buchs »Archipel Gulag« besteht darin, dass es im Westen als dokumentarische Beschreibung der Ereignisse wahrgenommen wurde. In dem soeben in Russland erschienen Buch »Ein Buch, das die Welt betrog« analysieren Historiker detailliert viele Darstellungen und bezeichnen sie als unglaubwürdig. Was leicht erklärbar ist. Als Militär kann ich sagen: Wenn du dich an einem Frontabschnitt aufhältst, es zu einem Zusammenstoß an einem anderen Frontabschnitt kommt, dann machen Menschen, die sich in einem Kilometer Entfernung aufhalten, daraus eine Katastrophe und sagen, dass alle getötet wurden, dass alle ums Leben kamen, dass alle gefangen genommen, allen die Köpfe abgeschnitten wurden. Dann kommst du dorthin und nichts dergleichen ist geschehen, das Ereignis hat sich zu einem vollständigen Mythos ausgeweitet.
Das betrifft auch die Lager, den Gulag. Da hat irgendjemand irgendwas irgendwo gehört, gesagt, nacherzählt, aufs Zehnfache vergrößert, die Rolle des Gulag sehr viel tragischer dargestellt. Ein strenger Kritiker wie Wladimir Buschin nennt den »Archipel Gulag« einen Sammelband von Lageranekdoten. Das ist natürlich ein strenges Urteil, und in dem Buch gibt viele reale Fakten, ich denke, fünfzig Prozent Reales zu fünfzig Prozent Erfundenem. Und die Ziffern, die Solshenizyn am Anfang seines Buches unter Berufung auf den Historiker Kurganow darstellt, sind grundsätzlich unwahr, um das Zehnfache übertrieben. Wir hatten eine Tragödie, man darf sie aber nicht in eine Vogelscheuche der Postmoderne verwandeln. Die Zeit ist gekommen, das Thema sine irae et studio zu handeln. Dafür ist Solshenizyn nicht gerade geeignet.
Außerdem hat der im Westen allseits akzeptierte Warlam Scharlamow Solshenizyn kategorisch abgelehnt und ihm nachgewiesen, die Lagertragödie zu politischen Zwecken zu missbrauchen. Das ist nicht meine Auffassung, das ist die Auffassung Scharlamows. Auch andere Schriftsteller wie Wojnowitsch haben sich grundsätzlich ablehnend zu Solshenizyn verhalten. Im Westen wissen wenige, dass Scharlamow oder Anatoli Rybakow, der Autor der "Kinder des Arbat", eines internationalen Bestsellers, ihre linken Überzeugungen bis zum Tod behalten haben, im Unterschied zu Solshenizyn. Auch sie kritisierten die Sowjetunion, aber nicht aus konservativer, amerikanischer Position heraus, sondern ausgehend von Lenins Wahrheit, vom Jahr 1917. Das ist ein grundsätzlich anderer Standpunkt. Diese Komplexität ist im Westen in vielem verloren gegangen, obwohl sie prinzipiell wichtig ist.
In Russland erscheinen Erzählungen, Novellen und Romane im Internet, in den ›dicken‹ Literaturzeitschriften und in Büchern. Wie überleben Schriftsteller in dieser Situation? Sterben sie nicht vor Hunger? Oder ist die Schriftstellerei für die wenigsten ihre Hauptbeschäftigung?
Vor vier Jahren habe ich meinen letzten Roman veröffentlicht. Natürlich kann ich davon nicht leben. Ich habe eine Fernsehsendung, sie macht den Hauptteil meiner Einkünfte aus. Ich halte Vorträge, treffe mich mit Lesern, wenn ich eingeladen werde und dafür ein Honorar bekomme. So verdiene ich mein Geld. Das ist auch ein Teil der Literatur. Ins Fernsehen wurde ich eingeladen, eine literaturhistorische Sendung unter dem Titel "Russisch-Stunden" zu gestalten. Darin teile ich als Schriftsteller meine Überlegungen mit. Wenn ich einen Text im Internet veröffentliche, wird er deshalb nicht weniger gut verkauft. Außer dem »Kloster« sind alle meine Romane im Internet zugänglich, das wirkt sich überhaupt nicht auf den Verkauf aus.
Man könnte vielleicht wie Sorokin oder Pelewin pro Jahr einen Roman schreiben. Das will ich nicht. In denke, Bücher muss man seltener schreiben, nicht jedes Jahr einen Roman. Deshalb verdiene ich Geld mit anderen Sachen. Von Literatur können in Russland zehn bis fünfzehn Menschen leben, die anderen 15.000 Schriftsteller leben von anderen Tätigkeiten.
In der deutschen und ausländischen Literatur gibt es die Tendenz zu anti-utopischen bzw. dystopischen Werken. Ich halte das für verständlich, wenn ich gewisse politische Manifeste lese. Gibt es in Russland Kräfte, die dem entgegenwirken?
Die Vorstellung, die Welt lebe im Stadium des Fortschritts, wird von uns selbst widerlegt. Die Welt fühlt eine Katastrophe herannahen. Die uns umgebenden Dystopien sind Ausdruck einer Sackgasse. Seit zwanzig, dreißig, vierzig Jahren herrschen die Ideen des Kapitalismus und Neoliberalismus. Darum handelt es sich. Gegenkräfte gibt es, meine Bücher werden aber in Deutschland nicht übersetzt. Ich schlage in ihnen eine andere Weltsicht vor, doch bei uns herrscht ein neoliberales Diktat und entgegengesetzte Auffassungen werden nicht akzeptiert. Man kann entweder Utopien, Fantastik oder die wirkliche Ordnung der Welt annehmen.