Gastautor Stefan Scholl ist Russland-Korrespondent des Wirtschaftsmagazins „brand eins“.

"Ich habe nicht getötet", Sachar Prilepin überlegt. "Natürlich habe ich geschossen. Aber ich musste nie jemanden frontal erschießen." Prilepin, 32, unterbricht sich, sucht nach einer Formulierung, redet schnell weiter, als spreche er seine Sätze ins Diktiergerät. „Männer ziehen nicht in den Krieg, um zu töten, sondern um zu sterben. Ich habe nie so schöne Männer wie im Krieg gesehen, junge Männer, Männer, die sich opferten."

Prilepin studierte in Nischnij Nowgorod Philologie, jobbte als Totengräber und Türsteher, wurde Elitemilizionär, kämpfte in Tschetschenien. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg lief er zu den militant oppositionellen „Nationalbolschewisten“ über.
Prilepins Kaffee ist ausgetrunken. „Entschuldigung“, er sieht sich sehr unmartialisch nach der Kellnerin um, „ich bestelle mir ein Bier.“
Er schrieb einen Roman über Tschetschenien, einen über die Nationalbolschewisten … Werke, politisch so inkorrekt wie ihr Autor. Aber ehrlich. Seine sehr autobiografischen Helden sind nicht nur mutig und opferbereit, sondern auch brutal, kleinlich oder feige. Die Psychologie seiner Texte beeindruckt, er wurde mit Preisen überschüttet, sogar schon von Präsident Putin empfangen. „Ich schreibe, was ich will, meine Bücher sind in ganz Russland zu kaufen“, vor Prilepin liegt eine offene Schachtel „Winston“, aber er raucht nicht. „Unsere Staatsmacht kontrolliert Kino, Fernsehen und die Presse. Aber sie liest keine Bücher, sie glaubt nicht, Literatur könne etwas verändern.“
Tatsächlich trifft die unter Putin neu erstarkte Zensur vor allem die Bereiche Fernsehen und Film. Russlands Kino wird seit Jahren statt von Talent von politischer Liebedienerei dominiert. Schriftsteller oder Dramaturgen genießen durchaus westliche Freiheit, auch bildende Künstler, solange sie keinen Anspruch auf millionenschwere Staatsaufträge anmelden. Die russische Literatur ist quicklebendig, Theater, Ballett und klassische Musik blühen, dies alles sind Genres, die keinen Anspruch auf Massenwirkung haben.
Prilepin ist bekennender Regimegegner, er organisiert in Nischnij Nowgorod – der drittgrößten Stadt Russlands und Heimat des sowjetischen Vorzeigeschriftstellers Maxim Gorki – Proteste gegen den Kreml. Die Staatsorgane beschatten ihn, nehmen ihn regelmäßig fest, verhören und bedrohen ihn. „Zum Glück bin ich jetzt prominent“, Prilepin grinst. „Wenn die Miliz mich bei Demos verhaftet, werde ich nicht mehr verprügelt, sondern an der Hand zum Bus geführt."

Er hat drei Kinder, gibt eine Zeitung heraus, leistet sich einen eigenen Fahrer. Aber er sagt, nichts werde ihn daran hindern, weiter zu rebellieren. „Es gibt nichts Sinnloseres, als heute in Russland auf der Straße Politik zu machen. Das Volk interessiert sich nicht, es gibt keine revolutionäre Situation. Der Westen unterstützt uns auch nicht.“ Und trotzdem mache er weiter. Das sei sein Schicksal.
„Freiheit?“, Autor Prilepin zündet sich jetzt doch eine Zigarette an. „Freiheit bedeutet, zu entdecken, was du wirklich im Leben tun willst. Und was du tun musst. Zu verstehen, was Gott von dir erwartet.“

„Die russische Musikszene will nur Pop – Marylin Manson hätte hier keine Chance“

„Wir werden auf der Bühne der Moskauer Olympiahalle stehen, vor 25.000 Menschen.“ Dima hat keine Angst vor seinen Träumen. „Ich hebe die Arme – und die 25.000 mit mir. Und alle sind gekommen, weil wir Lieder spielen, die sie bewegen, nicht weil wir gerade ,in’ sind.“ Dima, 25, lächelt vorsichtig, eher wie ein Jungphysiker als ein Rockmusiker, für den Fototermin setzt er die Brille ab. Aber Dima spielte schon mit 13 in seiner ersten Punkrockband, jetzt ist er Bassgitarrist der Gruppe „Mucha“, zu Deutsch Fliege.
Drei junge Männer und ein Mädchen, sie stehen auf dem Herrenklo im Kulturpalast Tuschino in Moskau, trinken Tee, rauchen und lachen. „Hier ist sozusagen unser Empfangsraum“, grinst Anton, 38, Schlagzeuger und Komponist des Kollektivs. Seit zwei Jahren proben sie, spielen in kleinen Klubs, fahren 2.000 Kilometer ins Wolgadelta zum Angeln, haben viel Spaß gemeinsam. Aber der große Durchbruch ist noch nicht geschafft.
Ljocha, 32, der Gitarrist, will einmal ein Album auf Englisch aufnehmen. Sascha, 25, die zierliche Sängerin, möchte „mit Musik alt werden wie Tina Turner“. Anton, der in den 1990ern in der berühmten Gruppe „Nogu swelo“ (dt.: Wadenkrampf) spielte, will es noch einmal mit seiner eigenen Musik schaffen. Sie glauben an ihre Träume, aber es ärgert sie, dass die Musikszene funktioniert wie der neurussische Monopolkapitalismus. „Es gibt nur Pop, Pop, Pop“, räsoniert Anton. Das Fernsehen zeige nur Schlager für Leute über 40. Und es gebe in Moskau kaum Klubs. Auch Stars verdienten deshalb ihr Geld nicht mit Konzerten, sondern auf den Privatpartys der Superreichen. „Marylin Manson hätte hier keine Chance.“
Aber die Band ist unverdrossen. „Rockgruppen in Russland machen oft nichts als Biertrinken und Quatschen“, sagt Dima. „Wir leben für unsere Musik.“ Ljocha jobbt als Beleuchter im Kulturpalast, Sascha als Promireporterin, Anton zehrt von Ersparnissen, Dima schreibt für eine Musikzeitung. Und alle vier ringen wie tausende unbekannte Gruppen weltweit um jene Akkorde, die noch keiner gehört hat, die alle ins Herz treffen. Entweder sie werden berühmt – oder vergessen, bevor sie überhaupt jemand gekannt hat. Aber Russen sind Optimisten. Sascha lächelt: „Alles wird gut.“

"Wenn ich ein Bild nicht verkaufen möchte, behaupte ich, es koste 200.000 Dollar"

„Nichts ist interessanter als Malerei“, Albina Akritas, Jahrgang 1934, lächelt – ein sehr junges Lächeln, vielleicht lächelte sie schon auf diese Weise, als sie mit einem Bleistift ihre Kinderfantasien zu Papier brachte. Damals in Tiflis, in dem Kunsterziehungskreis, den der Maler Wassilij Schuchajew leitete. „Ein Petersburger Meister“, erzählt sie, „den Stalin in ein sibirisches Straflager und dann nach Tiflis in die Verbannung geschickt hat.“ Albina Akritas spielt mit einer antik wirkenden Münze, die an ihrer Halskette hängt. „Nur ein Rubelstück“, sie lächelt wieder, „mein Sohn hat es als kleiner Junge auf die Schiene vor die Trambahn gelegt.“
Diese Frau sitzt im Präsidium der Russischen Akademie der Künste, sie lehrt am Surikow-Institut, der angesehensten Kunsthochschule des Landes, ihre Bilder hängen im Moskauer Puschkinmuseum, der Tretjakow-Galerie oder dem Russischen Museum in Petersburg. Noch unter Breschnjew wurde sie zur „Verdienten Künstlerin Russlands“ ernannt. „Als Mitglied des sowjetischen Künstlerverbandes musste ich jährlich ein paar Auftragsarbeiten abliefern: Lenin mit Stock, Lenin mit Kindern, Breschnjew mit Kindern.“ Aber ansonsten habe sie gemalt, was ihr Spaß machte. „Wir hatten schöpferische Freiheit wie heute.“
Der Sowjetstaat hatte den Künstlern Gehalt, Studienreisen und Ateliers gezahlt; nach seinem Kollaps kämpfte auch Albina Akritas ums Überleben. Zwei Sommer verbrachte sie mit ihrem Sohn Nikita und anderen Moskauer Künstlern in Wels in Österreich. Dort saßen sie auf der Straße und porträtierten Urlauber. „Nikita und die anderen haben schrecklich gepfuscht, alle Gesichter geschönt.“ Sie amüsiert sich. „Die Leute standen bei ihnen Schlange. Nur von mir wollte sich niemand malen lassen. Ich war zu realistisch.“
Heute kosten ihre Radierungen 3.000 bis 8.000 Dollar. „Wenn ich ein Bild nicht verkaufen möchte, behaupte ich, ich wolle 200.000 Dollar.“ Ihr Talent hat auch den Kapitalismus gemeistert, sie besitzt zwei Wohnungen, leistet sich Studienreisen nach Griechenland oder Spanien. Aber Surab Zeretelli, Bildhauer und steinreicher Präsident der Kunstakademie, staunt jedes Mal, wenn sie nach der Präsidiumssitzung sofort weg muss, um die letzte S-Bahn nicht zu verpassen. „Wieso? Lass dich doch von deinem Fahrer abholen.“ Surab Zeretelli monopolisierte unter dem Moskauer Bürgermeister Luschkow den Denkmalbau in der Hauptstadt, rettete aber mit seinen Finanzen und Fäden auch die Akademie der Künste vor dem Ausverkauf. Heute gilt er als Pate der neurussischen Kunst. Und kann nicht glauben, dass ein großer Künstler keine deutsche Limousine fährt.

Albina redet über die Bilder, die sie noch malen will. Und über die, die bereits vollendet sind. „Das waren doch Jungs, ganz kleine Jungs, die nicht ahnten, was ihnen bevorstand“, beschreibt sie ein Bild mit dem sowjetpathetischen Titel „Komsomolzen ziehen in den Bürgerkrieg“. Die Kunst hat ihr immer wieder neue Möglichkeiten, Erlebnisse und Ideen eröffnet. „Talentierte Menschen“, sagt sie, „sind freier.“
Aber Albina Akritas beklagt auch die herrenlosen Hunde in Moskau, um die sich niemand kümmert Und die alten Frauen, die ratlos im Supermarkt stehen und ihr Kleingeld zählen. „Zu wenig Kleingeld, um etwas zu kaufen“, Albina Akritas lächelt jetzt unfroh.
„Manchmal denke ich, ich sollte auswandern, in ein Land, das Hunde und alte Leute gut behandelt.“ Auch Menschen mit Talent können die Wirklichkeit um sich herum nicht neu schaffen.
Zwischen Staatssicherheit und Kommerz: Den Schaffensdrang bremst das nicht

Die Gruppe „Mucha“ ist aus dem Herrenklo des Kulturpalastes in den Studioraum zurückgekehrt und probt weiter. Ihre Musik klingt melodisch, wie später Sowjetrock. Und Sascha singt mit erstaunlich tiefer Stimme ihren eigenen Text: „… Wir schmecken Hitparade. Vergöttern fremde Ideale. Das Gift, das wir schlucken, ist süßer Verrat. Ersetzt das halbe Leben durch Plagiat …“
Anton sagt, „Plagiat“ werde ein Hit. „Unser größter Erfolg mit „Nogu swelo“ war das Lied „Karma Brju“. „Alle Radiomoderatoren sagten, es sei ein Hit. ,Legt es auf‘, sagten wir. ,Geht nicht‘, antworteten sie. ‚Zuerst muss es ein anderer Sender spielen.‘ Nach dem amerikanischen Prinzip: ‚Spiel einen neuen Song nie als erster.‘“ Anton grinst optimistisch. „Irgendwann hat es doch jemand aufgelegt. Und es wurde ein Hit. ,Plagiat‘ wird auch einer.“ Außer mit der Staatssicherheit haben es Russlands Kulturschaffende inzwischen mit sehr westlichen Marktmechanismen zu tun. Aber das bremst ihren Schaffensdrang nicht.

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