Ader

„Du bist grausam, schonungslos, hartherzig und eiskalt! Du belugst alle immer und uber alles! Du liebst mich nicht; du bist gar nicht in der Lage zu lieben.“

Dann, viele Jahre spater, muss man jedes Mal die Fassung bewahren, bei den Worten „Ich liebe dich“, in der Erwartung des niedertrachtigen „aber“. Ich liebe dich, aber … Ich liebe dich auch, aber …

Und es stimmt – man liebt. Aber du hast mich sehr oft gekrankt. Aber du hast mich sehr oft beleidigt.

„Geh! Verschwinde aus diesem Haus!“

Ich musste sowieso weggehen, also ging ich zur Tur hinaus. Sie schlug die Tur sofort mit einem lauten Knall hinter meinem Rucken zu. Dann horte ich das Gerausch des Schlussels im Schloss, wie das Knirschen eines zerbrechenden Knochens.

Wahrend ich ging, rieb ich mir die Stirn. Beim Nachbarhaus wahlte ich die Nummer meiner Frau.

„Hor mir zu …“, war alles was ich sagen konnte.

„Verschwinde schnell von hier. Sehr bald kommen sie, in zivil und in Uniform. Sie werden sich Zutritt verschaffen wollen und dich verlangen.“

Ich bin ein Anhanger der Revolution. Ich wei?, was auf mich zukommen kann. Ich erwartete sie gestern, auf Grund der Tatsache, dass einer meiner Kameraden mit der Anklage des Terrorismus in eine andere Stadt gebracht wurde. Aber gestern kamen sie nicht, und ich habe sie vergessen. Es wurde einen um den Verstand bringen, wenn man die ganze Zeit an sie denkt.

Ohne mich vom Fleck zu bewegen, nahm ich mein Handy auseinander um das Signal loszuwerden. Wegen dieses Signals haben sie mich bisher noch nie gefunden – das hei?t, dass sie mich heute finden konnten. Ich rauchte eine Zigarette. Aber es ist noch nichts entschieden. Schnell uberquerte ich die Stra?e und setzte mich in den ersten Obus, der vorbeikam.

Der Obus fuhr in die Nahe meines Hauses. Die Fenster meiner Wohnung waren leer und ruhig, das Glas spiegelte kein Gesicht wider.

Auf der Stra?e war Fruhling. Es war Mai, und die Luft war glasklar.

Fur einige Zeit sa? ich stumpfsinnig im Obus, uneingeschuchtert. Ich strich mit meinen trockenen Handflachen uber meine Finger – zuerst eine Hand, dann die andere. Der Obus war halb leer und ich sa? am Fenster. Ich konnte das schnelle Gleiten der Reifen horen. Ich begann, die anderen Passagiere genauer zu betrachten. Sie waren erstaunlich weit weg von mir, als ob wir uns unerbittlich auf unterschiedliche Seiten begeben wurden. Ihre Gesichter verschwammen vor meinem geistigen Auge; ich konnte sie nicht im Gedachtnis behalten. Dort sitzt ein kleiner Junge – mein Blick streift ihn. Schon bald ist der Junge weg, und ich hatte nicht die geringste Erinnerung daran, wie er aussah. Da steht eine altere Frau auf, ich habe nur kurz zu ihr ruber gesehen. Aber schon bald ist sie weg, und niemand konnte mich zwingen mich daran zu erinnern, wie ihr Gesicht aussah.

Die Welt wurde leise und flie?end. Ich setzte mich auf den Boden und erstarrte zu Stein.

Der Obus fuhr mich, als ob ich ein Stein ware.

Wir uberquerten eine Brucke, einen Platz, eine Kreuzung.

Die hochstehende Sonne brannte auf meine Stirn; auf der Stra?e war es noch kuhl, aber im Obus war es sommerlich warm und schwul. Ich mag das Sonnenlicht nicht, wenn es nicht in der Nahe einen gro?en, tiefen, kuhlen Teich oder See gibt. Zu Hause bemuhe ich mich die Rollos geschlossen zu halten und das elektrische Licht einzuschalten.

Aber heute wirkte die Sonne zart; genau so wie ich sie brauchte.

Ich entspannte meine Muskeln und nach einiger Zeit – zwei oder drei Obushaltestellen – merkte ich, dass meine Wangen und meine Stirn so geschmeidig wie Lehm geworden waren. Aus diesem Lehm kann man ein neues Gesicht, einen neuen Verstand formen.

Ich bin grausam, hartherzig und gleichgultig. Ich kann lugen und anderen wehtun ohne Reue zu empfinden. Ich bekomme was ich verdiene: ein versteinertes Gesicht. Aber dort, wo der Stein sein sollte, ist Lehm. Er zerbrockelt in Stucke, brockelt ab und lasst ein kahles, beinernes Gerippe zuruck. Hartherzig und gleichgultig und tot.

Und nur noch eine Ader lebt in ihm und lasst das letzte warme Blut pulsieren.

So hat unser gemeinsames Leben angefangen: wir haben uns verbunden, wie die Zweige, Blatter und Grashalme im Fruhling. Eines Tages ist meine Schwiegermutter fruh morgens zu uns ins Zimmer gekommen und hat uns gesehen. Wir haben geschlafen. Unser gro?tes Geheimnis war wie wir geschlafen haben. Alle anderen Geheimnisse wirken daneben lacherlich.

Einen halben Tag spater, sagte meine Schwiegermutter: „Ich wusste nicht und hatte nie gedacht, dass es so etwas geben kann.“

Wir lagen mit den Gesichtern zu einander, mit ineinander verschlungenen Armen und Beinen, Wange an Stirn, Bauch an Bauch, Knochel an Oberschenkel, mit einer Hand im Nacken und der anderen am Rucken und unseren Herzen beieinander. Wir haben so die ganze Nacht geschlafen. Nacht fur Nacht, Monat um Monat. Wenn wir beschlossen hatten, das durcheinander zu bringen, waren wir keine einheitlichen Menschen mehr gewesen.

Nach ein paar Jahren, vielleicht auch erst nach vielen, waren wir erschopft und ermattet von unserem Leben und all dem Trubel. Wir entfernten uns voneinander; uns wurde eng, beklommen und ubel. Nachts beruhrten sich unsere Arme und Knochel nur noch leicht. Manchmal umarmten wir uns auch – oder, genauer gesagt, ich umarmte sie – aber sogar im Schlaf zog sie sich zuruck, mude, und fast leblos. Ich erinnere mich an dieses nachtliche Gefuhl: wenn dich ein anderer Mensch unbewusst meidet und nur noch das Gefuhl der fehlenden Warme zurucklasst, wie ein einsames, hartes Stuck von einem dusteren, weit entfernten, kleinen Stern.

Wenn wir morgens aufstanden, versuchten wir wiederherzustellen, was wir in der Nacht verloren hatten: lachelnd und uns Blicke zuwerfend, aber wir verstanden dennoch, dass das Schicksal unvermeidlich, unausweichlich und unumsto?lich ist. Alles nahm sich wieder zusammen, und wurde warm, herb und beengt.

Am Fenster fuhren Autos vorbei. In jedem von ihnen sa? eine fremde Seele, wie ein Meteorit. Wie viel fremde Warme es doch auf der Welt gibt, wegen der nichts warmer wird.

Danach tranken wir Tee in der Kuche.

Eine halbe Stunde spater sah ich das Fenster dieser Kuche aus dem vorbeifahrenden Obus. Ich wollte niemanden am Fenster sehen; nicht sie, nicht die, die an diesem Maitag zu mir gekommen waren, um mir meine Warme und meine Freiheit zu entziehen – und meine letzte Ader aufzurei?en.

„Wo ist jetzt mein Freund? Wo haben sie ihn hingebracht?“ fragte ich mich und dachte: „Bald werden sie mich auch zu ihm bringen.“

Mein Freund hat einen wunderbaren und seltenen Namen: Ildar Chamazov. Naturlich nannten ihn alle Chamas.

In letzter Zeit haben wir oft miteinander getrunken. Ich hatte das Geld und konnte es mir leisten. Ich mische gerne verschiedene Getranke: Bier, Wodka, manchmal auch Schnaps oder Gluhwein. Ich bin schon lange nicht mehr betrunken geworden, und wei? nicht genau, ob ich einen Kater habe oder nicht, weil ich beim Abendessen am nachsten Tag wieder allmahlich mit dem Trinken anfange. Das wirkte sich aber nicht auf unsere Arbeitsfahigkeit aus. Wir haben unsere Arbeit trotzdem sorgfaltig und frohlich erledigt.

Chamas war gro?, hatte breite Schultern und war halb asiatisch von der Seite seines Vaters und halb russisch von der Seite seiner Mutter. Diese Mischung schuf einen schonen, vernehmlichen und ehrlichen Menschen.

Er sah gutmutig und charmant aus und trug immer saubere Kleidung ohne den geringsten mannlichen Geruch. Er sah rosig aus und lachelte viel, als ob er gerade au?ergewohnlich gut geschlafen hatte. Lebensfroh wusch er sich, putze sich flott die Zahne und verlie? das Dampfbad bei guten Freunden: immer mit einem wei?en Lacheln im gro?en Gesicht.

Er hatte Eigentumlichkeiten, die fur mich an Menschen des mannlichen Geschlechts sehr sympathisch sind: Geld war ihm vollig gleichgultig, er konnte Tag und Nacht alles stehen und liegen lassen und dir zu Hilfe eilen, er zeigte nie gro?es oder hastiges Interesse an Frauen und sprach auch nie uber sie.

Er war den lusternen Sohnen des Ostens genauso wenig ahnlich wie der jungsten Generation russischer Manner, die nur an sich selbst denken: die ungezwungenen Manner, mit zwei gro?en „n“ in der Mitte.

Ein Mann dieses Schlages muss immer entspannt sein, aber vor allem unertraglich angespannt, sogar ein bisschen die Stirn runzeln, beim unermudlichen Versuch, alle Worte zu filtern, die an ihn gerichtet werden: ob wohl in diesem Wort eine gewisse Falle enthalten ist, gewisse Zweifel daran, dass er ein Mann ist, er ist ein Mann, er ist ein MaNN, so ein Schei?.

Er muss sich auch auf eine gebuhrende Art und Weise benehmen: angeblich, und ich bin auch von diesem Schlag, aussehen, als ob ich au?erlich fast unbedeutend ware, aber innerlich schwer wie ein stahlernes Ei, mit Wurde. O, welch Durchfuhrung. Fuge ihm nur den geringsten Schaden zu, und du wirst erfahren wie viel von mir aus Stahl ist.

Ich kann das. Ich habe das schon oft getan. Es ist nicht schwer, aber man wird dessen schnell uberdrussig.

Aber Chamas war uberhaupt nicht so. Ich fuhlte mich bei ihm sehr einfach, und er war, davon bin ich uberzeugt, auch gut.

Egal ob wir tranken oder nicht, wir hatten einander immer einiges uber uns zu erzahlen. Wir taten dies mit einer freundlichen Herzlichkeit, mit einer so zarten Vorsicht, wie es sie sonst nur unter Kindern gibt. Wie als wir noch zwolf waren, nach dem guten Fischfang, nach dem schonen und prachtigen Regen, vor dem wir uns flott unter einen zerbrechlichen Busch gerettet haben. Wir gingen mit dem fur immer vergessenen Kameraden uber eine fast unertraglich schone Wiese und mit der gro?ten Freude der Welt war es ein bisschen so, also ob wir nicht zum letzten Mal gut, ehrlich, frohlich und ganz und gar nicht erwachsen waren.

Und dann kam diese Empfindung zuruck, und wir erzahlten einander uber uns – nur Gutes, und ganz ohne den Wunsch sich beim anderen einzuschmeicheln. Warum sollten wir – wir hatten das nicht notig. Wir haben dem anderen nichts genommen und nichts vorgeschlagen.

Wir gingen gemeinsam, zu zweit – eine leidenschaftliche, furchtlose Kolonne von Jungen auf den Stra?en der verschiedensten Stadte unseres verdrehten Staates, bis der Staat alle Pack oder Ass nannte, die nicht hier waren oder nicht hier sein durften.

Wahrend ich im Obus sa?, ertappte ich mich dabei, wie mein tonernes Gesicht, aus dem rohen und frischen Lehm, in ein Lacheln zerfiel bei der Erinnerung an Chamas.

„Es ware toll, wenn du jetzt auch hier sitzen wurdest, hier im Obu ...“ fing ich an und stockte in der Mitte des Gedankens.

Bei der nachsten Wendung loschte die Topferscheibe das Lacheln wieder von meinem Gesicht und ich sagte mir, dass es keinen Menschen auf dieser Welt gibt, den ich jetzt brauche.

„Chamas, verzeih mir!“

Die scherzhaften Redewendungen uber den Tod, die anderen Menschen gefallen, kamen mir immer seltsam vor. Ich mochte weder uber den Tod, noch uber andere Schmerzen in aller Offentlichkeit sprechen. Tiere sind da viel vernunftiger. Zum Beispiel vogeln sie schamlos herum, dafur kriechen sie aber zum sterben in einem geheimen Winkel.

Ich hatte kein Bedurfnis danach mein Gluck aus fruheren Zeiten mit der Welt zu teilen, und wer hatte das schon gebraucht. Aber auch die Erniedrigungen wollte ich nicht teilen. Ich habe nie nach meiner Liebsten auf dem Umzug der rot-schwarzen Flaggen gerufen: Ich wollte nicht, dass sie sieht, wie fremde Menschen mich uber den Asphalt schleifen.

„Halte durch, Chamas“, sagte ich versohnlich, „Wir werden bald alle dort sein. Bald werden sie auch mich dorthin bringen. Sie warten schon … die heutigen Manner“

Ich stellte mir vor, wie sie jetzt in meiner Wohnung sind und meine Frau fragen, wann ich wohin gegangen bin und wann ich wo ankommen werde. Sie sitzt nur dort und sieht die anderen mit einem verachtenden, hasserfullten Blick an; sie musste sich diesen Ausdruck nicht mehr aus dem Gesicht wischen – wenige Minuten nach der Ankunft der anderen sah sie schon mich mit diesem Blick an.

Abscheulichkeit und Aas – ich habe den Menschen in mir schon lange verloren, rief ihn nicht, und er reagierte auch nicht.

Sie rief ihn in mir, aber auch auf sie reagierte er nicht.

Dann, sagte ich mir, vergingen Jahre und wir horten auf uns zu beruhren: wir schliefen neben einander, still, wie Monche. Aber ich konnte diese Entfernung nicht aushalten. Jede Nacht, sobald sie eingeschlafen war, streifte ich mit meinem Fu? kaum spurbar ihren – wissen Sie, dass es dort, am der Ferse beim Knochel eine blaue Ader gibt? Einzig und schwach, an dieser Ader klammerte ich mich fest.

An dieser einzelnen Ader hielt alles fest.

Bei der nachsten Kurve verlor der Obus die Leitung und kam zum stehen. Die Leitung schwang hin und her wie ein Schnurrbart, schon und rot.

Die wenigen Fahrgaste setzten sich sofort zum Fenster: Sie hofften dort etwas zu sehen, um Neuigkeiten herauszufinden.

Der gelassene Fahrer stieg aus, streifte schmutzige Handschuhe uber, die fruher einmal wei? gewesen waren und nach wenigen Minuten war der Obus wieder fahrtuchtig, woraufhin alle erleichtert aufatmeten. Die Fahrkartenkontrolleurin hatte dabei einen Blick, als ob sie personlich an der Reparatur beteiligt gewesen ware.

Mir fiel auf, dass Kontrolleure sich wahrend der Fahrt oft so verhalten, als ob man sich in ihrem Besitz befande. „In meinem Obus fahrt niemand so.“ sagen sie stolz: „In meinem … bei mir … ich sage Ihnen …“

Menschen wollen immer etwas besitzen. Sie wollen es besitzen, sei es auch nur ein Obus.

Manchmal schielte ich ins Fahrerabteil: der alberne Gedanke hielt mich auf Trab, dass ich mir die Autos merkte mit Fahndern, die von uberall mit ihren Augen den Verkehr beobachten – und, oh welch Gluck! - plotzlich sehen sie mich im Obus, Mitleid erregend und fast lyrisch, die Stirn am Glas, den Blick leer und hell.

„Ihrem Geruch nach, finden sie dich vielleicht.“ verspottete ich mich selbst, manchmal beobachtete ich dennoch die langsam am Obus vorbeifahrenden Autos.

Und dann kam der verblassende Gedanke zu mir zuruck: „... Aber was ist mit Chamas? Wir konnten jetzt zu zweit in der Rus laufen. Sagen, dass wir zu meinem Gro?vater aufs Land fahren. Es wurde ihn freuen, das Dampfbad einzuheizen … und dann den selbstgebrannten Wodka mit Speck …“

„Wir gehen zu keinem Gro?vater!“, schnitt ich mir selbst das Wort ab.

Alleine gehst du sicher nicht. Was wurdest du dort tun? Mit einem Stock in der Erde wuhlen?

Au?erdem wohnt er nicht in der Taiga, sondern keine 100 Meter von der Hauptstra?e entfernt. Wenn sie dich suchen, werden sie dich dort ganz sicher finden. Stell dir vor, wie Gro?vater zusieht, wie sein Lieblingsenkel am Schlafittchen vom Hof gezogen wird …

Auf den Stra?en konnte man den Fruhling schon spuren. Die jungen russischen Frauen trugen schon Rocke und Stockelschuhe. Manche unter ihnen bewegten ihre hei?en Huften so gekonnt, dass ihre Rocke wie Pendel hin und her schwangen. Ihre Bewegungen sind alles andere als zuverlassig oder genau, aber die Hoffnung ist stets da.

Ich verfolgte die pendelnde Bewegung eines geschmeidigen, braunen Rockes, und dabei fiel mir auf, dass mich diese Bewegung gar nicht interessierte, und die Hoffnung fur mich uberhaupt keine Bedeutung hatte.

Es ist besser, wenn wir ohne Hoffnung bleiben. In einem leeren Herzen kommt es viel leichter zu Durchzug. Dann verstehst du, dass die Leute, die dich an der Hand halten, dich nicht mehr aufhalten, sondern dein Handgelenk ihnen entgleitet.

Fruher haben wir uns standig an den Handen gehalten, ich und sie.

Wahrend ich durch die Stadt fuhr, erinnerte ich mich an jede einzelne Stra?e, Haltestelle, Parkbank, jede Grunanlage, Allee, jeden Park. Durch all diese Orte sind wir gemeinsam gegangen, Hand in Hand, Lange mal Breite. Wohin auch immer wir gingen, gingen wir, wohin auch immer es uns verleitete zu gehen.

Und wirklich so war unser Gluck: stramm gespannt wie ein Segel.

Der Obus fuhr vorbei an Verkaufsstandchen und Ampeln, wurde geblendet von der Sonne, fuhr vorbei an Saulen, bedeckt mit Anzeigen uber Freizeit, vorbei an einem abrupt stehenbleibenden Passanten, der noch einen Wintermantel trug. Und hier blendete die Sonne, die bislang nur hin und wieder uber das Dach des Obus gehuscht war, auf einmal meine Augen mit voller Kraft, als ob sie mich mit einem Eimer voll Fruhling uberschutten wurde.

„Mein Herr, ich bitte dich“ sagte ich auf einmal unerwartet zu mir selbst, mit einer solchen Aufrichtigkeit, wie es sie sonst nur in meinem ersten Schrei gegeben haben konnte, „Ich bitte dich, Herr: Ich hatte so viel Gluck, dass ich daran erstickte. Das halbe Ausma? meines Gluckes ist fern von dem, was einem Menschen zusteht: Vergebung – Mitleid! Unvernunft und Zartlichkeit!“

„Treue und Entzucken – das sind die einzigen Dinge die ein Mann braucht. Sie sind wichtiger als alles andere, und ich hatte sie im Uberfluss!“ , erinnerte ich mich plotzlich dankbar.

Ich dankte mit Freude im Herzen und den Augen, die in die Sonne sahen und das helle Licht erblickten.

„Ich wei? noch, was die Hand eines Sohnes und der Atem einer Tochter sind“, sagte ich leise zu mir selbst: „aber wenn ich noch eine Sekunde langer daruber nachdenke, sterbe ich an gebrochenem Herzen.“

Die Fahrkartenkontrolleurin sah mich schon gereizt an. Ihr war aufgefallen, dass ich schon fast die ganze Runde gefahren war, ohne Ziel. Sie wollte offensichtlich sagen, dass ihr Obus nicht da ist, um Mu?igganger in der Stadt spazieren zu fahren.

Wir naherten uns einer Brucke, einem Platz, einer Kreuzung.

„Ich kann nichts mehr verlieren, weil ich schon alles hatte.“, sagte ich laut und lachelte lebhaft, es schien mir so, als ob ich neue Muskeln gefunden hatte, eine neue Haut, neues Blut, ein Gesicht.

„Ich kann nichts mehr verlieren, weil ich schon alles hatte und mir das niemand mehr wegnehmen kann.“, sagte ich mir.

„Ich bin kein Wolf, der vor euch weglauft.“, sagte ich noch und stieg aus dem Obus aus.

„Ich gehe nach Hause.“, fugte ich hinzu und fing zu rauchen an, wahrend ich ging.

Ich verlangsamte meinen Gang nicht, und stie? mich leicht von der Erde ab, wahrend ich sie anblicke und fur mich selbst lachelte. Beim Eingang warf ich die Kippe mit einem geschickten leichten Schlag weg, und sie flog weit. Mein Blick verfolgte ihren Flug und ihren Fall und dann sah ich einen Schnurstiefel, der sanft auf meinen Filter trat.

„Chamas, verdammte Schei?e!“, sagte ich und brach in Lachen aus.

„Verdammte Schei?e, Chamas!“, rief ich als wir uns umarmten. „Woher kommst du? Bist du geflohen?“

„Alles okay.“, sagte er.

„Aber sie warten zu Hause auf mich.“, fiel mir mit plotzlicher Bitterkeit ein, als ich Chamas in die Augen sah: es kann sein, dass ihm etwas einfallen wurde. Er ist jetzt ja frei.

„Nein, sie warten nicht.“, versicherte mir Chamas: „Sie sind gerade wieder gegangen. Unter anderem haben wir uns freundlich begru?t. 'Ist er schon angekommen?', fragen sie. 'Er ist angekommen.', sage ich. Sie haben mir befohlen, dir schone Gru?e auszurichten. Sie haben gesagt, dass du schon spazieren gegangen bist. Heute hast du sie abgewehrt.“

„Wirklich, Chamas?“

„Uber so etwas scherzt man nicht. Es ist eine spezielle Abteilung fur den Kampf gegen den Terrorismus. Sie haben mich zur Identifizierung nach Saransk gebracht und sie wollten dich auch dorthin bringen. Aber sie haben mich nicht identifiziert und haben es sich bei dir auch anders uberlegt.“

Wir haben uns gegenseitig leicht angesto?en und ich wollte ein bisschen tanzen oder sonst etwas Beliebiges, Inniges tun. Im Mullcontainer wuhlte strikt und vorsichtig ein Obdachloser und ich konnte das Verlangen, ihn zu umarmen und seinen zotteligen, stark riechenden Nacken zu kussen, kaum zuruckhalten.

Als wir auf die Mai Stra?e gingen, kauften wir uns ein Eis und a?en es, wahrend wir mit feuchten, wei?en Mundern lachten. Sanft breitete sich der Asphalt unter unseren Beinen aus und jeder nicht reinrassige, streunende Hund, der uns entgegen kam, begru?te uns schwanzwedelnd, und so mancher von ihnen beruhrte meine Handflache mit seiner feuchten Schnauze.

Am Abend zankte ich mich wieder mit meiner Frau.

Rebecca Madlener

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